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Verlust

Veröffentlicht am 11.03.2022

Mein "Bruder" ist vor kurzem gestorben. Viele haben ihn verloren und trauern. Sich von ihm zu verabschieden, hat meine Welt angehalten und in gewisser Weise steht sie immernoch still. Mein Mann hat seine Großmutter besucht und sie hat ihn nicht mehr erkannt. Sie hat Alzheimer. Es ist nicht sicher, wer wen verloren hat - sie ihn oder er sie. Heute saß ich in einem Café und hatte wieder eine von diesen wunderbar zufälligen Begegnungen in der Welt. Wir haben uns schon öfters gesehen, gegrüßt und ein paar nette Worte gewechselt. Wir unterhalten uns immer und er stellt mir jedes Mal die gleichen Fragen. Er kann sich an meine Antworten nicht erinnern. Aber er erinnert sich an mich. Das überrascht mich. Alles rund um Zahlen ist schwierig. Ich habe ihm deshalb gesagt, wir könnten uns doch auch über etwas anderes unterhalten. Das hat ihn erleichtert.

Wir führen sehr herzliche Gespräche. Er hat sich ungefähr zehn Mal mit mir verabredet und es hat mich nicht gestört, weil er sich jedes Mal, wenn ich ihm sagte, dass wir uns sicher wiedersehen, so freute. Er hat seine Erinnerung verloren. Wir haben in Corona Menschen und Existenzbasen verloren - ich auch. Und ich habe mich gefragt, wie die anderen Menschen, die in diesen Tagen so viel verlieren, damit zurechtkommen.

Verlust durchläuft fünf Phasen:

Die erste Phase ist die Verleugnung. Wir wollen es nicht wahrhaben. Der Gedanke, der sich vor uns auftürmt, die neue Realität, die sich uns vorstellt, ist zu groß, zu unfassbar, als dass wir es verarbeiten könnten. Also rettet sich unser Geist in die Verleugnung. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Danach kommt die Wut. Wir hadern mit dem Schicksal, wir sind sauer und frustriert. Wir tragen die Wut in uns und wissen nicht. wohin wir sie tragen sollen, wo wir sie abgeben könnten, wer sie entgegennimmt. Es gibt kein Rücksendeetikett, das wir ausdrucken können, um unsere Wut beim nächsten Paketshop abzusenden. Es gibt nicht diesen erleichternden Moment, wenn wir diesen kleinen weißen Schein in der Hand haben und wissen, es ist weg. Erledigt.

In der dritten Phase ist es Zeit für das Verhandeln, aber die Frage ist, mit wem. Wir führen schlaue Reden mit uns und anderen Menschen. Wir suchen nach einer Argumentation, an deren Ende wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir es nun endlich verstehen, was passiert ist. Es sind diplomatische Verhandlungen mit unserem Geist und unserer Seele, die ergebnislos enden.

Auch die vierte Phase, nämlich Anderen die Schuld zu geben, und die fünfte Phase, in eine Depression zu verfallen, führt uns nicht weiter. Wir schinden Zeit, um dem aus dem Weg zu gehen, was die Stunde tatsächlich von uns verlangt, denn es ist ein schmaler Grad zwischen Hoffnung und Verleugnen. Irgendwann, Gott weiß wann, finden einige von uns den Ausweg, die Lösung. Nicht alle.

Die einzige Lösung ist die Akzeptanz. Akzeptanz heißt Loslassen, was sich unserer Kontrolle entzieht.

 

Alleine diesen Satz zu schreiben, verschafft mir Erleichterung. Ich lese den Satz immer wieder und es beginnt, mir etwas besser zu gehen. Akzeptanz heißt nicht, etwas gut zu finden, es morgen in der gleichen Form wieder haben zu wollen. Akzeptanz heißt eben nur etwas loszulassen, was sich unserer Kontrolle entzieht. Vielleicht geht es uns danach nicht sehr viel besser, aber es ist irgendwie leichter geworden. Ich fühle mich freier.

Ich gebe zu, dass ich noch auf dem Weg bin, zu akzeptieren, dass mein "Bruder" nicht mehr da ist. Und vielleicht will ich es auch noch nicht akzeptieren, vielleicht will ich ihn noch nicht loslassen. Ich bin noch nicht so weit. Dann soll es so sein, aber ich weiß, dass ich dorthin kommen kann, wann immer ich es will. Etwas zu akzeptieren, bedeutet eine Entscheidung zu treffen. Ich bin also nur eine Entscheidung weit von der Akzeptanz entfernt. Das beruhigt mich.